Nähe ohne Grenzen – Wenn professionelle Distanz nicht ausreicht
In der Arbeit mit Jugendlichen geht es oft darum, eine klare Grenze zwischen Nähe und professioneller Distanz zu ziehen. Doch was passiert, wenn diese Grenze verschwimmt, weil ein Jugendlicher genau diese Nähe aktiv sucht? In diesem Blogbeitrag reflektiere ich über die Herausforderungen, die sich ergeben, wenn die professionelle Distanz nicht mehr greift – und warum es in manchen Fällen notwendig ist, diese zu überwinden, um wirklich zu helfen.
Jeremy Pape
9/10/20244 min lesen


Nähe ohne Grenzen – Wenn professionelle Distanz nicht ausreicht
Info: Dieser Beitrag ist eine Fortsetzung, lese zuerst den ersten Beitrag.
In der Jugendarbeit gibt es immer klare Richtlinien und Erwartungen, was die professionelle Distanz betrifft. Doch was passiert, wenn ein junger Mensch selbst entscheidet, diese Distanz aufzulösen, weil er sie als Hindernis für seine eigene Entwicklung sieht? Genau das erlebe ich mit dem Jungen, der mir seit Jahren besonders ans Herz gewachsen ist.
Normalerweise würde ich als Trainer eine gesunde Distanz wahren – die Grenze zwischen professionellem Engagement und persönlicher Beziehung klar ziehen. Doch bei diesem Jungen ist alles anders. Er sucht aktiv die Nähe, fordert sie geradezu ein, weil sie für ihn keine bloße Zuneigung bedeutet, sondern einen Rettungsanker in seinem chaotischen Leben darstellt. Für ihn ist diese Nähe keine Option, sondern eine Notwendigkeit.
Wo Distanz aufhört, beginnt Vertrauen
Der Junge, von dem ich spreche, hat gelernt, dass er sich in seinem Umfeld auf niemanden wirklich verlassen kann. Seine Familie ist überfordert, soziale Strukturen sind kaum vorhanden, und die wenigen Ankerpunkte in seinem Leben schwinden oft so schnell, wie sie auftauchen. Als Jugendlicher, der in solch einem Umfeld aufwächst, entwickelt man ein feines Gespür dafür, wer tatsächlich da ist und wer nur temporäre Unterstützung bietet.
Und genau hier kommt die besondere Verbindung ins Spiel. Es war nicht meine bewusste Entscheidung, die professionelle Distanz aufzugeben. Es war der Junge selbst, der mich immer tiefer in sein Leben hineingezogen hat. Er kam auf mich zu, erzählte mir von seinen Sorgen, fragte nach meiner Meinung, suchte nach meiner Bestätigung – nicht nur im sportlichen Bereich, sondern in allen Aspekten seines Lebens.
Es ging nicht mehr nur um den Fußball. Es ging um etwas Größeres. Für ihn war die Grenze zwischen Trainer und Vertrauensperson verschwunden, weil sie ihm nichts brachte. Für ihn war die Beziehung zu mir kein Teil eines Systems, sondern eine Art von Überlebensstrategie. Ich war sein sicherer Hafen.
Wenn Nähe zur Notwendigkeit wird
Wir reden oft davon, dass Trainer für ihre Spieler da sein sollten, sie unterstützen und gleichzeitig nicht zu nahe an sie heranrücken sollen. Doch was, wenn ein Spieler selbst diese Nähe verlangt? Was, wenn er spürt, dass die übliche Distanz für ihn nichts als ein Hindernis darstellt, das ihn in einer ohnehin von Unsicherheiten geprägten Welt noch weiter isoliert?
Der Junge hat klar gezeigt, dass er jemanden braucht, der sich wirklich kümmert – nicht nur im sportlichen, sondern auch im persönlichen Sinne. Für ihn ist es keine Wahl zwischen Distanz und Nähe, sondern die Erkenntnis, dass die emotionale Nähe zu mir eine der wenigen Konstanten in seinem Leben ist. Er will nicht nur einen Trainer, er will jemanden, der ihn begleitet, der ihn auf Augenhöhe ernst nimmt und ihm zeigt, dass er zählt.
In all unseren Aktivitäten – ob wir gemeinsam schwimmen gehen oder ins Stadion fahren – ist er nicht nur dabei, um Spaß zu haben. Für ihn geht es darum, zu spüren, dass es jemanden gibt, der ihn nicht nur als Sportler sieht, sondern als Menschen, der trotz seiner schwierigen Umstände Unterstützung verdient.
Die professionelle Grenze verschwindet – aber nicht planlos
Mir ist bewusst, dass ich mich in einer besonderen Situation befinde. Normalerweise wäre es meine Aufgabe, eine klare Grenze zu ziehen – die Distanz zwischen persönlichem Engagement und professioneller Verantwortung zu wahren. Doch bei diesem Jungen ist das schlicht nicht möglich. Er braucht diese Grenze nicht, er erkennt sie nicht einmal an, weil sie ihm nichts nützt. Was er braucht, ist Nähe, Vertrauen und jemand, der nicht wegsieht, wenn es schwer wird.
Natürlich bleibt die Frage: Wie viel Nähe ist zu viel? Doch bei ihm dreht sich diese Frage eher um das Gegenteil: Wie könnte ich ihm helfen, wenn ich diese Nähe verweigern würde? Es gibt Momente, in denen ich spüre, dass er gerade deshalb Fortschritte macht, weil ich ihm diese Grenze nicht aufzwinge. Er hat seine Unsicherheiten, seine Probleme – doch er sieht mich als sicheren Punkt in seinem Leben, und genau das lässt ihn wachsen.
Für mich bedeutet das, den Mut zu haben, diese besondere Beziehung weiter zuzulassen. Natürlich bedeutet das auch, die professionelle Distanz zu opfern. Aber in diesem Fall – bei diesem einen Jungen – ist es die richtige Entscheidung. Es gibt keine andere Option, die ihm wirklich helfen würde.
Wo endet der Einfluss – und wo beginnt die Abhängigkeit?
Es gibt jedoch auch Momente der Reflexion, in denen ich mich frage: Was passiert, wenn diese intensive Nähe irgendwann endet? Wie wird es ihm gehen, wenn ich nicht mehr so präsent sein kann? Schaffe ich durch meine Rolle als seine Vertrauensperson eine Abhängigkeit, die ihm vielleicht langfristig schadet?
Ich glaube nicht, dass es so ist. Vielmehr glaube ich, dass diese Nähe ihm die Möglichkeit gibt, sich selbst stärker zu fühlen. Jemand, der so viel Unsicherheit erlebt hat, braucht ein Gefühl der Stabilität, um überhaupt in der Lage zu sein, selbstständig zu werden. Ich gebe ihm diese Stabilität, und auch wenn es manchmal schwer ist, die richtige Balance zu finden, weiß ich, dass diese Nähe jetzt notwendig ist, um ihm langfristig zu helfen.
Ein Leben ohne Grenzen?
Was ich in dieser Situation gelernt habe, ist, dass professionelle Distanz nicht immer das Allheilmittel ist. In der Theorie klingt es richtig und wichtig, eine klare Linie zu ziehen – doch die Realität ist oft komplexer. Besonders bei einem Jungen, der mich nicht nur als Trainer, sondern als Bruder und Begleiter ansieht, ist diese Linie einfach nicht mehr relevant.
Für ihn bin ich mehr als nur ein Trainer, und das ist in Ordnung. Es geht nicht darum, die Regeln starr einzuhalten, sondern darum, sich an die Bedürfnisse der Menschen anzupassen, die wir betreuen. Manche brauchen klare Grenzen – andere brauchen Nähe. Bei ihm hat die professionelle Distanz keinen Platz, weil sie nicht zu seinem Leben passt.
Fazit: Zwischen Vertrauen und Verantwortung
Die Grenze zwischen Nähe und Distanz verschwimmt in der Jugendarbeit oft schneller, als uns lieb ist. Doch gerade bei einem Jungen wie diesem sehe ich, dass die Auflösung dieser Grenze manchmal genau das ist, was ein junger Mensch braucht. Es geht nicht um das Lehrbuchwissen, sondern um das, was in der Realität funktioniert. Bei ihm ist Nähe keine Wahl, sondern ein Muss. Und ich werde weiterhin diesen Weg gehen – bewusst und mit offenen Augen für die Verantwortung, die diese Beziehung mit sich bringt. Mit großer Hoffnung auf Besserung
Und, wer weiß, vielleicht bin ich bald doch der stolze große Bruder, der eigentlich nie einen natürlichen Bruder hatte..