Ein bisschen privater als sonst: Jeremy. Mein Verständnis von mir selbst und dem System.
MENSCHLICHKEITGEDANKEN
Jeremy
7/8/20259 min lesen
Ich habe lange gebraucht, um mich selbst zu verstehen. Vielleicht habe ich es bis heute nicht vollständig geschafft – und vielleicht liegt genau darin meine Freiheit. Nüchtern betrachtet bin ich vermutlich eine sehr komplizierte Person. Ich laufe nicht rund. Ich passe nicht gut in Schubladen. Ich bin nicht linear. Ich bin eher so etwas wie eine verschachtelte Fußnote in einem Buch, das niemand freiwillig zu Ende liest – aber das doch irgendeine Wahrheit in sich trägt, die man sonst nirgendwo findet.
Ich besitze einen moralischen Kompass. Einen echten. Kein geliehenes Ding, keine modische Meinung, kein Kompass aus TikTok, Tagesschau oder Twitter. Es ist ein innerer Wille, zu helfen, zu verstehen, zu verbinden. Ich trage das in mir, tief – wie einen inneren Auftrag. Ich will Gutes tun. Nicht im Sinne von „gut aussehen“, sondern im Sinne von „gut sein“. Und das ist anstrengend. Denn meine Moral ist keine stromlinienförmige Ethik. Sie ist chaotisch, zweifelnd, zersplittert. Ich bin geplagt von Fragen, nicht von Antworten.
Gleichzeitig schieße ich oft übers Ziel hinaus. Ich sage Dinge, die man nicht sagen soll. Ich tue Dinge, die man nicht tun darf. Ich übe Kritik, die zu hart klingt, und stelle Fragen, die keine Ruhe geben. Ich provoziere. Nicht, weil ich es will. Sondern weil ich nicht anders kann. Ich spüre, dass vieles falsch läuft – im Kleinen wie im Großen – und ich halte es nicht aus, das einfach so stehen zu lassen.
Ich war nie ein Kind, das in das Raster gepasst hat. Nie das lauteste, nie das auffälligste. Ich war einfach nur: anders. Schüchtern, still, in mich gekehrt. Nicht desinteressiert, sondern selektiv interessiert. Ich hatte meine eigenen Normen. Ich folgte keinem Trend. Und ich rede auch heute nicht wie andere, denke nicht wie andere, handle nicht wie andere. Ich tue nur das, was mich in dem Moment wirklich interessiert – leidenschaftlich, tief, kompromisslos. Und genau das hat mir immer wieder die Kritik eingebracht, ich sei undiszipliniert, nicht teamfähig, nicht verlässlich. Vielleicht stimmt das sogar – aber nur, wenn man Disziplin als das stumpfe Abarbeiten fremder Erwartungen versteht.
Ich funktioniere nicht nach System. Ich bin kein idealer Zahnradsatz im Getriebe der Gesellschaft. Und doch – paradoxerweise – profitiere ich vom System. Ich lebe in ihm, ich nutze seine Strukturen, seine Bequemlichkeiten, seine Regeln. Ich bin eine Art Widerspruch auf zwei Beinen: Ich bin äquivalent zum System, weil ich in ihm überleben kann – aber ich bleibe gleichzeitig ein Fremdkörper, weil ich innerlich dagegen anschwimme. Und ich weiß: Das ist nicht heldenhaft. Das ist nicht rebellisch. Es ist einfach… das, was ist.
Ich habe ein tiefes Unbehagen gegenüber dem „Prototyp Mensch“, wie er heute propagiert wird. Glatt, effizient, angepasst, dauerhaft verfügbar. Ein Mensch, der über Selbstoptimierung spricht, aber dabei sein Selbst immer weiter verliert. Ein Mensch, der mit Begriffen wie „Mindset“, „Leistung“, „Stabilität“ um sich wirft, aber innerlich bröckelt, sobald die äußere Fassade ein bisschen wackelt.
Ich habe kein Interesse daran, dieser Norm zu entsprechen. Ich glaube, wir sind zu kollektiviert. Zu sehr darauf gepolt, zu gefallen, statt zu empfinden. Wir sprechen über Gefühle, wie man über Aktien spricht – abstrahiert, analysiert, monetarisiert. Das „Kollektiv“ funktioniert wie ein Schwarm – aber es denkt nicht. Es kopiert. Es wiederholt. Es verdrängt. Wer aus der Reihe tanzt, wird nicht etwa bewundert, sondern beargwöhnt.
Ich bin nicht besser. Aber ich bin bewusst. Und vielleicht ist das mein einziger Vorteil. Ich sehe mich selbst – nicht als fertiges Produkt, sondern als Prozess. Ich erkenne meine Widersprüche, meine Unsicherheiten, meine Brüche. Und ich will sie nicht glätten. Ich will sie verstehen. Ich glaube, nur wer sich selbst radikal annimmt, kann anderen wirklich etwas geben.
Ich profitiere ständig von einem System, das ich tief im Inneren ablehne. Ich esse von seinem Teller, während ich seine Rezepte kritisiere. Ich bin Jugendleiter in einem Fußballverein – zusammen mit meinen Kollegen haben wir es geschafft, den Verein von vier auf dreiundzwanzig Mannschaften aufzubauen. Wir strukturieren, organisieren, motivieren. Es läuft sehr gut. Und es ist ein Teil von mir, auf den ich auch stolz bin. Doch auch hier frage ich mich oft: Tragen wir das System weiter oder verändern wir es still von innen? Sind wir Funktionäre oder Freigeister? Macher oder Mitmacher?
In der Schule habe ich mein Abitur gemacht. Nicht mit Glanz und Gloria, sondern eher beiläufig – fast schon zufällig. Ich hatte Dutzende Fehlzeiten. Ich habe nie für eine Klausur gelernt. Ich war oft körperlich anwesend, geistig aber woanders – dort, wo echte Fragen gestellt werden. Lehrer habe ich konfrontiert, oft unangebracht, aber nie grundlos. Ich hatte nur Respekt vor denen, die ich wirklich mochte – nicht vor der Rolle, nicht vor der Autorität. Es war mir egal, wer da vorne stand, solange keine Substanz da war. Und paradoxerweise: Gerade denen, mit denen ich nicht klargekommen bin, habe ich manchmal die tiefsten Fragen gestellt. Nicht aus Trotz, sondern aus einer Art intellektuellem Hunger. Ich wollte wissen, ob da mehr ist als nur das, was man sehen kann.
Dieses Muster zieht sich durch mein Leben. Ich verbringe sehr viel Zeit mit Menschen, bei denen ich oft das Gefühl habe, dass kein echtes Gespräch möglich ist. Nicht, weil sie böse oder dumm wären – sondern weil ihnen die Tiefe fehlt. Oder vielleicht: weil sie sie verstecken. Auf gewisse Fragen kommt einfach keine Antwort. Sie bleiben an der Oberfläche, schwimmen mit dem Strom. Und trotzdem… verbringe ich Zeit mit ihnen. Ich lehne diese Oberflächlichkeit eigentlich ab. Ich kritisiere das System, den Prototypen Mensch, der einfach so ins Leben hineinlebt, ohne zu hinterfragen. Aber vielleicht – genau vielleicht – will ich genau dort ansetzen. Ich will ausgerechnet von diesen Menschen mehr aus der Fassade kitzeln. Ich glaube nicht daran, dass Tiefe nur für „Tiefe“ reserviert ist. Ich glaube, jeder Mensch trägt einen Funken Wahrheit in sich – aber die wenigsten wurden je dazu eingeladen, ihn zu zeigen.
Vielleicht wiederhole ich mich. Vielleicht wird das hier redundant. Aber das ist nun mal kein Thema, über das ich recherchiere. Kein Aufsatz über ein fremdes Phänomen, keine Argumentation mit Quellen oder Fußnoten. Es ist der Versuch, mich selbst zu analysieren – und das ist nie ganz geradeaus. Es ist chaotisch. Es ist fragmentarisch. Und vor allem: Es ist ehrlich.
Ich will auch kein Schwurbler sein. Kein Selbstinszenierer. Ich sehe mich nicht als jemand, der „weiter“ ist als andere, oder der glaubt, eine Wahrheit zu kennen, die anderen verborgen bleibt. Im Gegenteil: Ich weiß vieles nicht. Ich bin verwirrt. Ich bin oft überfordert. Ich stelle mehr Fragen, als ich Antworten habe. Und ich glaube, genau deshalb schreibe ich das hier.
Ende Juni bin ich alleine nach Neapel gereist. Völlig ohne Begleitung, ohne Rückversicherung, ohne Plan B. Eine Stadt, die oft als chaotisch, gefährlich oder dreckig gilt. Aber das war mir egal. Ich wollte dahin, wo man mich nicht kennt. Und genau das habe ich bekommen. Ich war ein Niemand – und das war wunderschön. Ich war sicher, ich war frei, ich war ruhig. Ich konnte tun, was ich wollte. Kein Smalltalk. Kein Erklären. Kein Gefallenwollen. Die Stadt war mir gleichgültig gegenüber – und gerade das hat mir Raum gegeben, mich wieder mehr auf mich selbst zu konzentrieren. Diese Tage haben etwas in mir ausgelöst. Ich habe mir geschworen: Irgendwann werde ich für längere Zeit alleine das Land verlassen. Nicht aus Flucht, sondern aus Notwendigkeit.
Was mich derzeit zurückhält, ist nicht Angst. Es ist auch keine Bequemlichkeit. Es ist Verantwortung. Die fußballerische Begeisterung, ja – aber vor allem die Kinder, mit denen ich seit vier Jahren arbeite. Die Verpflichtung, die ich ihnen gegenüber spüre, hält mich hier. Es ist kein Vertrag. Es ist keine Pflicht. Es ist etwas Tieferes. Ich will sie nicht hängen lassen. Und vielleicht will ich auch mir selbst nicht eingestehen, dass ich längst woanders sein will.
Denn so viel Deutschland auch ermöglichen kann – dieses Land wird nie der Ort sein, an dem ich mich zu Hause fühle. Ich bin nicht stolz auf dieses Land. Ich finde mich hier nicht wieder. Ich möchte hier nicht enden. Ich fühle mich oft fremd in den Straßen, auf den Plätzen, in den Gesprächen. Und jedes Mal, wenn ich aus einer Reise zurückkomme – ja, ich nenne es bewusst nicht „Urlaub“, weil ich diesen Begriff ablehne, der Flucht mit Erholung verwechselt – spüre ich: Ich will hier nicht sein. Nach Neapel war dieses Gefühl besonders stark.
Derzeit fühlt sich alles leer an. Ich funktioniere, aber ich bin nicht da. Ich bin außergewöhnlich genervt von allem, was sich wie eine Verpflichtung anfühlt. Ich bin überfüllt von Menschen, mit denen ich nichts mehr sagen will. Nicht, weil sie schlecht wären. Sondern weil ich satt bin. Sattgesehen. Sattgehört. Ich bin in einem Loch – nicht aus Selbstmitleid, sondern aus Überdruss.
Diese knallharte Resonanz in mir – dass ich „satt“ von Menschen bin, die mir eigentlich nichts Schlechtes wollen – bringt einen weiteren, zentralen Aspekt meiner Persönlichkeit zum Vorschein: den dauerhaften Zwiespalt zwischen hemmungsloser Konsequenz und meinem eigenen Gewissen.
Ich bin niemand, der Dinge halbwarm durchzieht. Wenn ich mich für etwas oder jemanden entscheide, dann bin ich ganz da. Über Wochen, über Monate, manchmal täglich, manchmal zu intensiv. Ich schenke Aufmerksamkeit, Präsenz, ehrliches Interesse. Aber dann – irgendwann, oft aus dem Nichts – ziehe ich mich zurück. Radikal. Fast brutal. Ich lasse Kontakt sterben. Ich melde mich nicht mehr. Ich schneide innerlich den Draht durch, ohne Abschied, ohne Erklärung.
Und das passiert nicht aus Bosheit. Es passiert, weil in mir etwas sagt: „Das war’s jetzt.“ Und dieses Gefühl duldet keine Debatte. Doch damit kommt auch die Schuld. Das schlechte Gewissen. Denn ich weiß, dass diese Menschen mir nie wirklich geschadet haben. Viele von ihnen wollten mir Gutes. Viele haben mich getragen, unterstützt, mir zugehört. Und trotzdem bin ich gegangen – innerlich und äußerlich. Diese Kälte, die mich manchmal überkommt, steht in vollkommenem Widerspruch zu dem tiefen Bedürfnis, gut zu sein.
Manchmal frage ich mich, wie ich mit all diesen Einstellungen überhaupt in dieses Leben passe. In diese Welt, die getaktet ist, gegliedert, optimiert. In ein Dasein, das oft aus Erwartung besteht – und seltener aus ehrlichem Ausdruck. Ich laufe mit einem inneren Kompass durch eine Landschaft aus fremden Koordinaten. Ich sehne mich nach Tiefe, Wahrheit, Richtung – aber das Leben antwortet selten in klaren Sätzen. Es antwortet in Kompromissen.
Und genau das ist vielleicht mein größtes Problem: Ich bin schlecht im Kompromisse machen. Ich denke entweder ganz oder gar nicht. Vielleicht bin ich zu hart zu mir selbst. Vielleicht auch zu den anderen. Ich denke oft, dass ich konsequent bin – aber vielleicht bin ich manchmal einfach nur stur. Ich denke, ich bin direkt – aber vielleicht bin ich in manchen Momenten nur rücksichtslos. Ich rede von Tiefe – aber vielleicht verhindere ich sie genau dadurch, dass ich sie ständig einfordere.
Diese Lebenshaltung – das ständige Infragestellen, das Unbequeme, die kritische Distanz – bringt eine gewisse Klarheit. Aber sie bringt auch Einsamkeit. Wer immer gegen den Strom denkt, steht oft allein. Wer alles bis zum Kern hinterfragt, findet manchmal keinen festen Boden mehr. Und wer radikal ehrlich lebt, riskiert, sich selbst und andere zu verletzen.
Ich weiß, dass mein Weg nicht der einfache ist. Vielleicht ist er auch nicht der richtige. Aber er ist meiner. Und er hat seinen Preis. Ich bin kein Vorbild. Das sage ich nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern aus Überzeugung. Und trotzdem – wenn ich zurück zum Vereinsleben komme – erlebe ich, dass ich Einfluss habe. Mehr, als mir manchmal lieb ist. Ich denke, ich kann behaupten, dass ich gerade auf viele sozial schwache, zum Teil auch zunächst als „asozial“ abgestempelte Kinder positiven Einfluss nehmen konnte. Nicht, weil ich ihnen beigebracht habe, wie man sich benimmt – sondern weil ich sie ernst genommen habe. Weil ich sie gesehen habe. Und weil ich sie nicht verändern, sondern erreichen wollte.
Einige von ihnen haben sich spürbar entwickelt. In ihrer Haltung, in ihrem Denken, manchmal sogar in ihrer Sprache. Es gibt Momente, da höre ich sie Wörter benutzen, die aus meinem ganz eigenen Wortschatz stammen. Sie sprechen wie ich. Und das amüsiert mich – es ehrt mich sogar ein Stück weit. Aber es bringt auch einen neuen Zwiespalt mit sich.
Denn genau das kritisiere ich doch: blinde Nachahmung. Anpassung an ein Bild, statt die Entwicklung eines eigenen. Wenn sie sprechen wie ich, dann sprechen sie zwar anders als der Mainstream, aber eben noch immer nicht wie sie selbst. Und das kann nicht das Ziel sein. Ich will nicht, dass sie zu Mini-Versionen von mir werden. Ich will nicht, dass sich ein Personenkult um mich bildet – so ein schwachsinniger Mechanismus, wie man ihn leider viel zu oft in Vereinen oder Gruppenstrukturen beobachten kann.
Ich will, dass sie sich selbst werden. Dass sie ihre eigene Stimme finden, ihren eigenen Takt spüren. Auch wenn das wie dahergeredet klingt, wie etwas aus einem Motivationsbuch. Aber es ist mein Anliegen. Ich möchte sie begleiten, nicht führen. Sie stärken, nicht formen. Und das ist schwerer, als man denkt.
Einer meiner Spieler, den ich seit über vier Jahren begleite, hat mir kürzlich geschrieben – mitten in der Sommerpause. Er spricht davon, dass er mich und den Alltag vermisst. Und das, obwohl wir gerade mal eine Woche Trainingspause haben. In sieben Tagen geht es ohnehin weiter. Aber allein die Tatsache, dass ein mittlerweile 13-jähriges Kind so etwas schreibt, dass es offenbar über unser Miteinander nachdenkt, bewegt mich zutiefst. Es inspiriert mich. Und es setzt mich unter Druck – den guten Druck. Den Druck, dieser Aufmerksamkeit gerecht zu werden. Ihm etwas zu geben, das bleibt. Aber eben nicht, indem ich ihn „forme“. Sondern indem ich ihm helfe, bei sich zu bleiben.
Ich sehe, wie viel Verantwortung darin steckt. Und wie viel Verantwortung ich mir selbst daraus mache. Ich will niemanden in eine Welle ziehen, nur weil ich gerade stark wirke. Ich will, dass sie selber schwimmen lernen – mit ihrem eigenen Stil, ihrem eigenen Rhythmus, ihrer eigenen Kraft.
Und vielleicht ist das der ehrlichste Wunsch, den ich äußern kann: Ich will kein Vorbild sein, aber ein Anstoß. Kein Ideal, aber ein Spiegel. Kein Zentrum, aber ein Wegweiser – der irgendwann überflüssig wird. Nicht nur im Fußball, sondern für alle und vor allem für mich selbst.
Cheers.